Der Naziterror in Österreich: Prominententransport

Der Prominententransport ins Konzentrationslager: Am 1. April 1938 ging der erste sogenannte "Prominententransport" mit 151 Personen von Wien nach Dachau. Darunter Fritz Beda Löhner, der Librettist Lehars Operetten und Schöpfer vieler Gassenhauer der 20er Jahre ("Was machst Du mit dem Knie lieber Hans", "Ausgerechnet Bananen", ...) - und des Buchenwald-Liedes.

Prominententransport. Noch bevor der deutsche Einmarsch in den Morgenstunden des 12. März 1938 begann, landeten auf dem Asperner Flughafen in Wien SS-Chef Heinrich Himmler und seine Truppe, die sofort mit der Verhaftung der politischen Gegner begann. Richard Schmitz, Leopold Figl, Friedrich Hillegeist und Franz Olah zählten zu den ersten, die den SS-lern in die Hände fielen. Die SA durchsuchte die nach Osten abgehenden Züge auf freier Strecke nach Flüchtlingen. Und auch schon bevor am 10. April 1938 die hitlerische Volksabstimmung über den Anschluss Österreichs an das Großdeutsche Reich begann, fuhren die ersten Züge in die Konzentrationslager.

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Am 1. April 1938 ging der erste so genannte "Prominententransport" mit 151 Personen nach Dachau: Christlichsoziale, Sozialdemokraten, Monarchisten (Legitimisten), Kommunisten: Friedrich Bock, der spätere ÖVP-Vizekanzler, der SPÖ-Stadtrat Robert Danneberg, Wiens Bürgermeister Richard Schmitz, Niederösterreichs Landeshauptmann Josef Reither, die späteren Bundeskanzler Leopold Figl und Alfons Gorbach, der spätere ÖGB-Präsident und Innenminister Franz Olah, Viktor Matejka, Ludwig Soswinski, der Richter Alois Osio, die Künstler Fritz Beda Löhner und Heinrich Sussmann standen neben zahlreichen anderen auf der Transportliste. Eigentlich fühlte sich Fritz Beda Löhner sicher: "der Hitler mag meine Musik", soll er gesagt haben. Hitler war ja Fan von Franz Lehars Operetten.

Etwa 50-60 Menschen des ersten "Prominententransportes" waren bereits jüdischer Religion oder Herkunft. Von Anfang an waren die österreichischen Juden die vom nationalsozialistischen Regime am schärfsten verfolgte Gruppe. Zahlreiche Transporte nach Dachau folgten, u. a. am 31. Mai und am 3. Juni 1938 mit je 600 jüdischen Häftlingen; schließlich erreichten die KZ-Einweisungen aus Österreich während des Novemberpogroms 1938 einen ersten Höhepunkt, als 3.700 Juden aus Wien in das KZ Dachau gebracht wurden. Weitere Transporte mit österreichischen Juden gingen in das KZ Buchenwald. Aus allen vorliegenden Berichten geht hervor, dass es während des Transportes und insbesondere bei der Ankunft in Dachau ständig zu Demütigungen und Misshandlungen der Häftlinge seitens des begleitenden SS-Personals kam. "Faules, verjudetes und verpfafftes Kaffeehausgesindel" waren die Österreicher im Jargon der SS. Der erste in Dachau umgekommene Österreicher war der am 28. April 1938 in den Selbstmord getriebene Hans Kotanyi, Gesellschafter der gleichnamigen Paprikamühle; Josef Kende wurde am 24. Oktober 1938 das erste österreichische Opfer im KZ Buchenwald. Ab dem Novemberpogrom 1938 waren oft und nahezu jeden Tag mehrere jüdische Opfer zu beklagen. Während 1938/39 noch Entlassungen von jüdischen KZ-Häftlingen - bei Vorliegen von Einreisedokumenten für andere Länder - möglich waren, setzte nach Kriegsausbruch 1939 im KZ Buchenwald ein permanenter Massenmord an Juden ein, der als Vorstufe des Holocaust anzusehen ist.


Das Buchenwaldlied

Wenn der Tag erwacht, eh' die Sonne lacht,
die Kolonnen ziehn zu des Tages Mühn
hinein in den grauenden Morgen.
Und der Wald ist schwarz und der Himmel rot,
und wir tragen im Brotsack ein Stückchen Brot
und im Herzen, im Herzen die Sorgen.

O Buchenwald, ich kann dich nicht vergessen,
weil du mein Schicksal bist.
Wer dich verließ, der kann es erst ermessen.
wie wundervoll die Freiheit ist!
O Buchenwald, wir jammern nicht und klagen,
und was auch unser Schicksal sei,
wir wollen ja zum Leben sagen,
denn einmal kommt der Tag: dann sind wir frei!

Und das Blut ist heiß und das Mädel fern,
und der Wind singt leis, und ich hab' sie so gern,
wenn treu sie, ja treu sie nur bliebe!
Und die Steine sind hart, aber fest unser Tritt,
und wir tragen die Picken und Spaten mit
und im Herzen, im Herzen die Liebe.

O Buchenwald, ich kann ...
Und die Nacht ist so kurz, und der Tag ist so lang,
doch ein Lied erklingt, das die Heimat sang.
Wir lassen den Mut uns nicht rauben.
Halte Schritt, Kamerad, und verlier nicht den Mut,
den wir tragen den Willen zum Leben im Blut
und im Herzen, im Herzen den Glauben.

O Buchenwald, ich kann ...


Der Anschluss. Die österreichische Bevölkerung machte die Erfahrung zweier faschistischer Diktaturen - derjenigen zwischen 1934 und 1938, in der es zwar auch Lager und Standgerichte gab, die aber in keiner Weise mit dem blutigen Massenterror des Nationalsozialismus vergleichbar ist, und derjenigen von 1938 bis 1945, der Nazi-Herrschaft, als Österreich Teil des "Großdeutschen Reiches" war. In Österreich herrschten also bereits vor dem "Anschluss" keine demokratischen Verhältnisse mehr. Die geringe Körpergröße des Bundeskanzlers Dollfuß gab den Gegnern Anlass zu Spott, man nannte ihn "Millimetternich". Fotos, die ihn zwischen baumlangen Heimwehrführern zeigen, wirken lächerlich und täuschen darüber hinweg, welchen Einfluss dieser Mann besaß. Er beseitigte die sozialdemokratischen Gegner mit Gewalt und baute, mit Notverordnungen und dem Standrecht regierend, einen faschistischen Staat auf, der in der Maiverfassung von 1934 seinen Ausdruck fand. Im Juliputsch wurde der Austrofaschist Dollfuß von den Nationalsozialisten ermordet.


Ihm folgte der Austrofaschist Dr. Kurt Schuschnigg ebenso ohne jegliche demokratische Legitimation als Bundeskanzler. Nach der Zusammenkunft in Berchtesgaden (Abkommen von Berchtesgaden mit Adolf Hitler) plante Bundeskanzler Dr. Schuschnigg eine Volksabstimmung über die Unabhängigkeit Österreichs. Unwillig, Österreich zu retten, war er noch in dieser Stunde nicht bereit, die Sozialdemokraten wieder an der Macht zu beteiligen und die Demokratie dem Nationalsozialismus entgegen zu stellen. So war das jedoch ein untauglicher und ungeschickter Versuch, Hitler mit seinen eigenen Waffen zu schlagen. Die zusätzlichen offenkundigen Manipulationen, mit denen man vor allem Jungwähler, die als besonders anfällig für den Nationalsozialismus galten, von der Wahl ausschließen wollte, waren für Hitler ein weiterer willkommener Vorwand, mit militärischen Interventionen zu drohen für den Fall, dass die Abstimmung nicht abgesetzt würde. Außerdem verlangte er die Einsetzung von Seyß-Inquart als Regierungschef. Schuschnigg gab nach, aber die hektischen, diplomatischen und militärischen Vorbereitungen liefen weiter.

England verspürte wenig Neigung, sich militärisch für ein unabhängiges Österreich einzusetzen. Frankreich, einst der Hauptgegner des Anschlusses, war wieder einmal in einer Regierungskrise. Mussolini schließlich versprach, 1934 noch Verbündeter der Austrofaschisten, stillzuhalten. Am 10. März 1938 erließ Hitler die Weisung Nr. 1 zum militärischen Einmarsch in Österreich. Die vorübergehende Weigerung des österreichischen Bundespräsidenten Wilhelm Miklas, Seyß-Inquart zum Kanzler zu ernennen, war das Signal für eine Erhebung der österreichischen Nationalsozialisten, die alle wichtigen Ämter in kurzer Zeit besetzten. Obwohl so die Machtergreifung in Österreich längst im Gange war, gab Hitler am 11. März 1938 um 20.45 Uhr den Einmarschbefehl für den nächsten Tag. Gleichzeitig inszenierte Göring die Komödie eines Hilfe-Ersuchens von Seyß-Inquart, das dieser nie abgeschickt hatte und das Göring veröffentlichte, obwohl der österreichische Bundespräsident nachgegeben und sich auch Seyß-Inquart gegen den Einmarsch deutscher Truppen noch gesträubt hatte.

Der Einmarsch der deutschen Truppen verlief reibungslos, hunderttausende Menschen jubelten dem "Führer" zu, viele, besonders jüdische Mitbürger, begingen Selbstmord. Der Chef der Abteilung Landesverteidigung im deutschen Generalstab, Alfred Jodl, scherzte mit seinen Soldaten: "Lassen Sie alle Kraftfahrer unbedingt Brillen aufsetzen, sonst werden ihnen durch die Blumen die Augen ausgeschossen." In Wien trieben an diesem Tag die neuen Machthaber Juden und politische Gegner zu den berüchtigten "Reibpartien". Mit Bürsten und ätzender Lauge mussten sie die Schuschnigg-Parolen vom Straßenpflaster reiben. Der "Daily-Telegraph" - Korrespondent G.E.R. Gedye beschrieb in seinem Buch "Die Bastionen fielen. Wie der Faschismus Wien und Prag überrannte" die Demütigungen: "Die erste Reibpartie sah ich auf dem Parterstern. Sie musste das Bild Schuschniggs entfernen, das mit einer Schablone auf den Sockel eines Monuments gemalt worden war. SA-Leute schleppten einen bejahrten jüdischen Arbeiter und seine Frau durch die beifallklatschende Menge. Tränen rollten der alten Frau über die Wangen, und während sie starr vor sich hinsah und förmlich durch ihre Peiniger hindurchblickte, konnte ich sehen, wie der alte Mann, dessen Arm sie hielt, versuchte, ihre Hand zu streicheln. "Arbeit für die Juden, endlich Arbeit für die Juden!" heulte die Menge. "Wir danken unserem Führer, er hat Arbeit für die Juden beschafft!"."

Bereits am 12. März 1938 abends landeten Reichsführer-SS Himmler und der Chef des SD, Heydrich, in Wien. Listen der österreichischen Oppositionellen (Sozialdemokraten, Kommunisten, Christlichsoziale) waren vorhanden. Auch die Exekutive und das Österreichische Bundesheer waren zu diesem Zeitpunkt bereits von nationalsozialistischen Kräften durchsetzt. Gegner des Regimes wurden in Schutzhaft genommen. Die Führung der NSDAP-Österreich stellte sich diesen "Anschluss" so nicht vor. Dr. Arthur Seyss-Inquart und der provisorische Gauleiter Klausner hatten eine Art von Teilsouveränität angestrebt. Erst das frenetische Jubeln der Österreicher veranlasste den "Führer", den kompletten Anschluss an das Deutsche Reich zu vollziehen. Gauleiter Bürckel wurde beauftragt, die "Abstimmung" am 20. April 1938 zu organisieren. Das Resultat: Über 99 Prozent für Hitler. Tausende politische Gegner wurden bereits vorher verhaftet, dies unter tatkräftiger Beteiligung der österreichischen Exekutive.

Die Folgen für Österreich: 90.000 kg an gemünztem und ungemünztem Gold im damaligen Wert von rund 540 Millionen Schilling wurden an die Reichsbank Berlin transferiert, zuzüglich Valuten und Devisen im Werte von etwa 60 Millionen Schilling. Der Nationalbankausweis vom 23. Februar 1938 wies einen Bestand von etwa 250 Millionen Schilling aus. Das Deckungsverhältnis war seit dem 31. Dezember 1934, an dem es 32,3 Prozent betrug, auf etwa 45 Prozent gestiegen. – Österreich wäre wirtschaftlich lebensfähig gewesen, politisch nicht. Unter anderem erhielt das Deutsche Reich 1.909 Lokomotiven, 249 elektrische Triebfahrzeuge, u.a. die gesamten österreichischen staatlichen Betriebe (Erzberg, sämtliche Rechte an staatlichen Betrieben und deren Nutzungsrechte). Hermann Göring äußerte sich mehrmals, dass die deutsche Aufrüstung ohne dem Anschluss Österreichs nicht so reibungslos vonstatten gegangen wäre.

Feige Prominente. Vom Prominententransport nicht betroffen waren die wirklich Prominenten. Sie hatten sich arrangiert. Der christlich-soziale Politiker Wilhelm Miklas war vom 10.Dezember 1928 bis 13. Dezember 1938 Bundespräsident. Seine Amtsführung dienerte dem Faschismus, weil er weder 1933 die Ausschaltung des Nationalrats verhinderte, noch die Regierungsarbeit auf Grund des kriegswirtschaftlichen Ermächtigungsgesetzes untersagte. Seine Amtszeit wäre nach sechs Jahren abgelaufen gewesen, trotzdem repräsentierte er weiter für den faschistischen Ständestaat. Doch 1938 zeigte er noch einmal ein Fünkchen Mut, ließ sich doch auch diesen abkaufen. Er trat 1938 zurück, um die rechtmäßige Entstehung des Anschlussgesetzes im Sinne der Verfassung aus dem Jahre 1934 nicht unterzeichnen zu müssen, und erhielt dafür eine "Ehren-Pension" von Adolf Hitler zugesprochen.

Der glücklose Kanzler Kurt Schuschnigg versuchte, in einer Erklärung vom 11. Juni 1938 seine Politik im Nachhinein zu rechtfertigen. Er schloss diese Erklärung mit den Worten: "Persönlich erkläre ich meinen festen und freien Willen, in bedingungs- und vorbehaltloser Loyalität zu Führer, Reich und Volk zu stehen, und wäre froh, der deutschen Sache dienlich sein zu können". Dass der Prominente es auch noch unter den Nazis besser hatte und eine Behandlung erfuhr, von der die im "Prominententransport" nur träumen konnten, zeigt ein Auszug aus den Wachvorschriften der Gestapo Wien vom 8. September 1938: "Dem Sch. ist das Betreten des WC auf Verlangen zu gestatten. Vor dem Betreten muss jedoch das Fenster des WC geschlossen werden. Der diensthabende Wachtmeister hat den Sch. auch während des Aufenthaltes im WC in taktvoller Weise zu überwachen. Die Tür zum WC ist während des Aufenthaltes des Sch. in diesem Raum nicht ganz zu verschließen, so dass eine Überwachungsmöglichkeit besteht . . . Außerdem ist es dem Sch. gestattet, sich Obst und Zigaretten besorgen zu lassen . . . der Wachhabende hat darauf zu achten, dass kein übermäßiger Verbrauch von Alkohol und Zigaretten erfolgt. Falls Sch. an einem Tag mehr als 30 Zigaretten verlangt, ist auf Zimmer 316 Meldung zu erstatten."

Der ehemalige Vorarlberger Heimwehrführer und Landeshauptmann Otto Ender, Kurzzeit -Bundeskanzler und Schöpfer der austrofaschistischen Maiverfassung von 1934, der bis zum Anschluss noch Rechnungshofpräsident war, ließ sich nach 1945 als Verfolgter des Nazi-Regimes bezeichnen. Dem Demokratiefeind hatten die Nazis nicht mehr getan als ihn zu beobachten. Miklas hatte Otto Ender in den Märztagen des Jahres 1938 zweimal gebeten das Amt des Bundeskanzlers zu übernehmen, damit er nicht den Nazi Seyß-Inquart bestellen müsse. Doch Otto Ender drückte sich feige und arrangierte sich in der Folgezeit.


Weiterführende Links:
Wiener Zeitung: Österreichs Weg zum Anschluss im März 1938
Dachaulied "dank" Vorarlberger Zöllner? (Free mp3)
Free mp3: Die Moorsoldaten - Lied vom Börgermoor
Franz Lehár in Wien unter Hausarrest gestellt

[Erwähnte Kalendertage in diesem Beitrag: 10. Dezember 1928, 11. März 1938, 12. März 1938, 13. März 1938, 1. April 1938, 20. April 1938, 11. Juni 1938, 8. September 1938, 24. Oktober 1938]

31. März 1913

Arnold Schoenberg

31. März 1913: Das Konzert der Watschen - Im Wiener Musikvereinssaal gerieten sich am 31. März 1913 die Konzertbesucher in die Haare und es setzte Watschen. Das als "Watschenkonzert" in die Geschichte eingegangene Kunstereignis endete in einer regelrechten Schlägerei, als die Anhänger Schoenbergs ihn gegen die Oscar-Straus - Fans verteidigten.

Watschenkonzert. Schon bei der Uraufführung von Schoenbergs "Dreimal sieben Gedichte aus Albert Girauds Pierrot lunaire" (op.21) im Jahre 1912 war es zu Störungen durch jaulende und beleidigende Zwischenrufe gekommen. Am 31. März 1913 findet dann im Wiener Musikvereinssaal ein Konzert - von Schoenberg dirigiert - statt. Als die Anhänger der Oscar Straus-Richtung die Vorführung stören, setzt es die "Watschen". Schoenberg übersiedelt noch im selben Jahr nach Berlin.

Aufgeführt werden unter anderem Musikstücke von Werken von Schoenberg, Berg, Webern, Mahler und Zemlinsky, darunter Schoenbergs 1. Kammersymphonie und zwei von Alban Bergs Altenberg-Liedern, die Berg nach fünf Altenbergischen "Ansichtskartentexten" verfasst hat. Diese waren dann auch der Stein des Anstoßes. Als es zu Störungen kommt, klopft Schoenberg inmitten des Liedes ab und schreit ins Publikum, dass er jeden Ruhestörer mit Anwendung öffentlicher Gewalt abführen lassen werde. Nun kam es zu wüsten Schimpfereien, Abohrfeigungen und Forderungen. Anton von Webern mischte sich von seiner Loge aus ein und empfahl, dass man die ganze Bagage hinausschmeißen sollte. Und aus dem Publikum kam die Antwort, dass man die Anhänger dieser Musik in die Wiener Irrenanstalt abschaffen müsste. Das Toben und Johlen im Saale hörte nun nicht mehr auf. Ein beobachtender Redakteur vermerkte dazu, dass es gar kein seltener Anblick war, dass irgendein Herr aus dem Publikum in atemloser Hast und mit affenartiger Behändigkeit über etliche Parkettreihen kletterte, um das Objekt seines Zornes zu ohrfeigen. Es wird vermutet, dass das Konzert vom Wiener Architekten Adolf Loos subventioniert war. Die Forderung Schoenbergs "Musik soll nicht schmücken, sie soll wahr sein" kann in direkten Bezug zur Loos'schen Ästhetik gesetzt werden, insbesondere seinem Kampf gegen jede Form von angewandter Kunst und für die Dignität der reinen und Bildenden Kunst, die sich durch keinerlei Zugeständnisse an einen Publikumsgeschmack 'prostituieren' dürfe.
Schoenberg und Straus im Überbrettl. Sie waren eine Zeit lang gemeinsam am ersten deutschsprachigen Kabarett, dem von Ernst von Wolzogen nach dem Vorbild des Pariser "Chat noir" gegründeten "Überbrettl" tätig. Oscar Straus war der musikalische Leiter, Arnold Schoenberg kurzfristig sein Assistent. Es wird schon dort von "Reibereien" berichtet, jedenfalls war Schoenberg mit der musikalischen Qualität nicht sehr zufrieden. Oscar Straus, dessen Komposition "Der lustige Ehemann" die effektvolle Schlussnummer schon bei der Eröffnung des "Überbrettl"-Gastspiels bildete, arbeitete dort nicht nur mit Schoenberg zusammen sondern traf dort auf seinen Librettisten Rideamus. Aus dieser Zusammenarbeit entstanden Operetten wie "Hugdietrichs Brautfahrt" oder "Die lustigen Nibelungen", dessen Inszenierung in Graz schon 1906 zu so heftigen Protesten von rechtsgesinnten Gruppen führte, die dem Stück eine Verunglimpfung des traditionsreichen Nibelungen-Stoffes vorwarfen, dass es abgesetzt wurde.

Bild: Alban Berg

Bei einem Gastspiel des "Überbrettls" am Wiener Carl-Theater im Sommer des Jahres 1901 lernte Wolzogen Arnold Schoenberg kennen. Dieser Kontakt kam auf Empfehlung von Oscar Straus zustande. Schoenberg zeigte Wolzogen einige zwischen April und September 1901 komponierte Lieder, deren Texte er einer Anthologie "Deutscher Chansons" entnommen hatte, welche auch den Textfundus des "Überbrettls" darstellte. Wolzogen erwarb für die Saison 1901/02 sowohl den "Nachtwandler" nach einem Text von Gustav Falke, welchen er "höchst originell und musikalisch reizvoll" fand, sowie "Jedem das Seine". In seinen "Brettl-Liedern" zeichnete Schoenberg die in den Gedichten dargestellten Charaktere satirisch nach, steigerte sie mitunter sogar ins Groteske. Um die musikalischen Qualitäten des "Überbrettl"-Orchesters war es vermutlich nicht besonders gut bestellt: Schoenbergs "Nachtwandler" scheiterte bei der Uraufführung, da der Trompeter den Schwierigkeiten der Partitur nicht gewachsen war. Trotz der anfänglicher Popularität des Theaters geriet das Unternehmen "Überbrettl" bald in eine finanzielle Krise: Denen, die wegen der Kunst kamen, war es zu sehr Tingeltangel, den Unterhaltungslustigen hingegen zu literarisch. Wolzogen stieg im Juni 1902 schwer verschuldet aus dem Geschäft aus; Schoenbergs Vertrag, der bis zum 31. Juli 1902 ausgestellt worden war, wurde nicht verlängert.

Verein für musikalische Privataufführungen. Das Problem der Neuerer in der Musik, das Unverständnis und die Intoleranz der Konservativen riefen den Wunsch nach Kunstgenuss im eigenen engeren und verständigeren Kreis, ohne Wettbewerb und Beifall, hervor. Viele Aufführungen zeitgenössischer Kompositionen wurden von heftigen Tumulten begleitet. Es kam zu einer Aufspaltung des bürgerlichen Musiklebens. Im Jahre 1918 wurde in Mödling die Idee zum "Verein für musikalische Privataufführungen" entwickelt. Schoenberg und sein Schwager Alexander von Zemlinsky hatten schon im März 1904 den Verein schaffender Tonkünstler gegründet.


Vorsitzender der neuen Vereinigung war Schoenberg selbst. Zur Seite stand ihm ein Vorstand, gebildet aus Personen seines Freundes- und Schülerkreises. Der Verein gab sich unter anderem folgende Spielregeln: Es gibt kein genaues Programm, um einen gleichmäßigen Besuch der Konzerte zu erreichen. Presse ist nicht zugelassen. Die gespielten Werke werden wiederholt. Es besteht das Verbot von Beifalls- oder Missfallenskundgebungen, um dem Zuhörer eine genaue Kenntnis des Werkes zu verschaffen. Die Konzerte sind nicht öffentlich. Max Reger war der am meisten aufgeführte Komponist. Mangels eines Orchesters arrangierten die Protagonisten zeitgenössische Orchestermusik für Kammerensemble und sie gewannen mit Orchesterwerken von Reger, Debussy, Schoenberg oder Mahler noch eine Dimension hinzu: kammermusikalische Subtilität.

Neue Musik. Seit dem Beginn des 20. Jahrhundert formiert sich die "Neue Musik". Gemeint war damit eine zeitgenössische Musik, die sich gegen die Romantik wandte. Spätestens seit Richard Wagner vollzog sich eine Auflösung der lange Zeit die westeuropäische Musik beherrschenden kompositorischen Ordnungsprinzipien und Tonalitätsvorstellungen. Nach einem Zwischenstadium der Atonalität entwickelte Arnold Schoenberg die Dodekaphonie. Die Zwölftonmusik schien allerdings in der Luft zu liegen. Sie war nicht allein Schoenbergs "Erfindung".


In den Jahren um 1920 wurden in russischen und österreichischen Komponisten­Kreisen ohne wechselseitigen Kontakt Überlegungen angestellt, wie sich die von der Tonalität befreite Musik in eine neue Ordnung bringen lasse. Arnold Schoenberg und Josef Matthias Hauer gelangten zu Kompositionsverfahren mit zwölf Tönen, Hauer zeitlich zuerst, doch Schoenbergs weltweiter Ruf verdrängte in der Folgezeit Hauers Namen mehr und mehr aus dem Bewusstsein der breiten Öffentlichkeit. Es gibt drei Wiener Zwölftonschulen (repräsentiert durch die Namen Schoenberg, Hauer und Steinbauer), die sich in Klangbild und Melodik für jedermann hörbar unterscheiden. Arnold Schoenberg schrieb in seinem Brief vom 1. Dezember 1923 an Josef Matthias Hauer: "Zeigen wir der Welt, dass die Musik wenigstens ohne die Österreicher zunächst nicht weiter gefunden hätte, während wir die Fortsetzung wissen."

Ferdinand Raimund (*1.6.1790-†5.9.1836)

Ferdinand Raimund (eigentl. F. Raimann, * 1. 6. 1790 Wien, † 5. 9. 1836 Pottenstein durch Selbsttötung). Ja selbst die Karriere Raimunds hätte man im 20. Jahrhundert in Amerika unter dem Motto "Der Schuhputzer als Millionär" (sic!) angesiedelt.

Emanzipation. Ein Blick in seine Biografie erhellt seine emanzipatorische Leistung: Bescheidene Vermögensverhältnisse, besonders nach dem frühen Tod der Eltern zwingen Raimund nach Besuch der Volksschule zu einem schnellen Broterwerb. Er beginnt die Lehre bei einem Zuckerbäcker, der die Konzession hatte, im Wiener Burgtheater und im Josefstädter Theater Erfrischungen zu verkaufen. Als Verkäufer von Süßigkeiten erhält Raimund die erste Begegnung mit dem Theater.

Brotberuf. 1808 bricht er seinen "Brotberuf" ab und schließt sich verschiedenen Theatergesellschaften an, die vornehmlich in Ungarn spielen. Bereits im Jahre 1814 spielte er in der Josefstadt, von wo man ihn 1817 fix an das Leopoldstädter Theater engagierte. Dort wurde er 1821 zum Regisseur ernannt. Es folgten Jahre großer Bühnenerfolge, wie z.B. "Der Bauer als Millionär" (1826), die seinen Ruf als größter Komödiendichter der Vorstadtbühnen seiner Zeit begründeten.

Burgtheater. Im Jahre 1885 fand, fast vierzig Jahre nach Raimunds Tod, mit "Der Verschwender" sein erstes Stück Einzug ins Burgtheater, wo seine Werke bis heute einen festen Bestandteil des Repertoires darstellen.

Link:
Ferdinand Raimund - Biografie, online lesbare Werke

[Erwähnte Kalendertage in diesem Beitrag: 1. Juni 1790, 5. September 1836]

4. Mai: Ludwig II. Von Bayern baut sich Bayreuth

Richard Wagner - steckbrieflich gesucht. Seit Mai 1849 wurde er wegen der Beteiligung an der 1848er Revolution in Dresden steckbrieflich gesucht und konnte erst 1862 wieder nach Deutschland zurückkehren. Umso verwunderlicher, dass ihn Ludwig II. von Bayern 1864 nach München ruft, worauf sich dann am 22. April 1872 Richard Wagner in Bayreuth niederlässt.

Gründung. An seinem 59. Geburtstag, nur einen Monat später, dem 22. Mai 1872, wurde auf dem Grünen Hügel nördlich von Bayreuth der Grundstein zu seinem eigenen Theater, dem Festspielhaus, gelegt. Damit hat er sich endlich vom großstädtischen Repertoire-Theater befreien können, an dem er immer wieder verzweifelt war. Das Richtfest wird am 2. August 1873 mit Feuerwerk und Volksfest begangen. Jeder Quadratmeter kostete umgerechnet fast genau 1000 Euro. Dabei ist der im Mai 1882 fertig gestellte Königsbau (Vorbau in der Fassadenmitte) noch gar nicht mitgerechnet. Die ersten Festspiele beginnen am 13. August 1876 mit "Rheingold".

Doch der Traum Wagners ist noch keineswegs gesichert. Der Bau des Festspielhauses gerät schon 1874 aufgrund finanzieller Schwierigkeiten ins Stocken. Als dann noch das Münchner Hofsekretariat die Übernahme einer finanziellen Garantie für Bayreuth ablehnt, steht das Unternehmen vor dem Aus. Am 25. Januar 1874 fasst König Ludwig II. jedoch den Entschluss, Richard Wagner zu helfen. Und so wird am 20. Februar ein Kreditvertrag zwischen dem "Verwaltungsrat der Bühnenfestspiele" und dem Münchener Hofsekretariat geschlossen, mit dem die Finanzierung vorerst gesichert ist.



Ludwig II. Es mutet merkwürdig an. Wagner hatte immer nach einem adeligen Gönner Ausschau gehalten, der ein, nein sein Theater finanzieren könnte. Schon 1850 im Züricher Exil hatte Wagner ein Festspielhaus "angedacht". An seinen späteren Schwiegervater Franz Liszt - dessen Tochter hatte er eben erst bei deren Hochzeitsreise kennen gelernt - schreibt er am 20. November 1851: "Die Aufführung meiner Nibelungendramen muss an einem großen Feste stattfinden, welches vielleicht eigens zum Zwecke eben dieser Aufführung zu veranstalten ist. Sie muss dann an drei aufeinander folgenden Tagen vor sich gehen, an deren Vorabende das einleitende Vorspiel gegeben wird."

Seit Mai 1849 wurde er wegen der Beteiligung an der 1848er Revolution in Dresden steckbrieflich gesucht und konnte erst am 1. Februar 1962 wieder nach Deutschland zurückkehren. Umso verwunderlicher, dass ihn Ludwig II. von Bayern 1864 nach München ruft und es am 4. Mai 1864 zu einer für die Zukunft Bayreuths und Wagners denkwürdigem Treffen kommt. Der frisch gebackene verschwenderische König ließ Wagner sofort nach seinem Amtsantritt suchen, war er ja nicht nur auf der Flucht vor der Reaktion sondern auch vor seinen Gläubigern. Richard Wagner scheint jedenfalls sehr angetan und so scheint es kein Zufall, dass Richard Wagner ausgerechnet am Geburtstag Ludwig II. Cosima von Bülow (die Tochter von Franz Liszt) heiratet. Ludwig II. regelte nicht nur die Finanzierung des Fespielhauses. Er regelte auch Wagners Schulden.

Cosima. Richard Wagner war als "Alt-1848er" in München nicht gerade beliebt. Auch bei den Beamten nicht. Wohl auch weil Wagner das doppelte Gehalt eines Staatsekretärs bekam. Da passte das Gerücht eines ehebrecherischen Verhältnisses von Wagner mit der Ehefrau des Hofkapellmeisters Bülow, der auch etliche Wagneraufführungen dirigierte, wie die Faust aufs Auge. 1865 stellte deswegen die gesamte Ministerriege Ludwig ein Ultimatum: Entweder er jagt den Ehebrecher fort oder man tritt geschlossen zurück. Wagner dementierte gegenüber Ludwig das Verhältnis mit Cosima und verlangte, dass er für ihn eine Ehrenerklärung in der Öffentlichkeit abgebe. Ludwig wollte ihm glauben und tat's, wiewohl alle Spatzen längst das Gegenteil von den Dächern pfiffen. Allerdings kam die Wahrheit denn doch ans Licht und Wagner musste wiederum kurzfristig als "Ehebrecher" in der Schweiz Quartier nehmen. Cosima hatte er übrigens während seiner Emigrantenzeit in Zürich, als er nach 1849 in den deutschen Staaten steckbrieflich gesucht wurde, kennen gelernt. Hans und Cosima von Bülow besuchten ihn dort auch am 31. August 1857 auf ihrer Hochzeitsreise.



Neuerliches Defizit. Die Schwierigkeiten waren aber auch mit der Finanzierung des Baus in Bayreuth noch nicht aus dem Wege geräumt. Als ab 13. August 1876 der gesamte Zyklus des "Ring der Nibelungen" aufgeführt wird, bahnt sich das nächste Desaster an. Die Festspiele schließen mit einem Defizit von umgerechnet 1,14 Millionen Euro. Zur Abdeckung des Bayreuther Defizits kommt am 31. März 1878 ein Tantiemen-Vertrag mit München zustande: Bayreuth erhält ein verzinstes Darlehen von umgerechnet 766.938 Euro, das aus den Tantiemen der Münchner Wagner-Aufführungen zurückgezahlt wird.


Links:

10. Juni: Verrücktes Bayernland
Bayreuther Festspiele
Richard Wagner Werkstatt
Richard Wagners Antisemitismus. Jahrhundertgenie im Zwielicht. Eine Korrektur.
Anhören: Hochzeitsmarsch aus Lohengrin (arranged for piano or organ and edited by Pierre Gouin)
Richard Wagner als Vorläufer der Nazis?

[Erwähnte Kalendertage in diesem Beitrag: 22. April 1849, 22. April 1872, 2. August 1873, 13. August 1876, 25. Januar 1874, 20. November 1851, 1. Februar 1962, 4. Mai 1864, 31. August 1857, 13. August 1876, 31. März 1878]

13. April 1919 - Cafe Wahnsinn


Cafe Wahnsinn verhaftet: Am 13. April 1919 wird der Literat Erich Mühsam mit den insgesamt zwölf Zentralratsmitgliedern der Münchner Räterepublik von Putschisten verhaftet. Obwohl die Putschisten sich nicht über den Abend des Tages halten können, ist Mühsam bereits aus München gebracht worden und bleibt sechs Jahre in Haft.

Münchner Räterepublik. Das Ganze fing eigentlich damit an, dass etwas konstruiert wurde, was es bis dahin nicht gab und auf das die Bayern bis heute stolz sind: den "Freistaat Bayern". Am 7. November 1918 war in München im Zuge der Novemberrevolution ein Arbeiter- und Soldatenrat mit Kurt Eisner als Vorsitzendem gegründet und der Freistaat Bayern ausgerufen worden; am 8. November 1918 bildeten USPD und SPD eine Koalitionsregierung mit Eisner (USPD) als Ministerpräsidenten und Außenminister und Erhard Auer (SPD) als Innenminister, am 5. Dezember 1918 setzte das Kabinett die Neuwahlen zum bayerischen Landtag für den 12. Januar 1919 fest. Eisners Verdienst in diesen Tagen war es, dass die Arbeiter- und Soldatenräte in München ohne Blutvergießen die Macht übernahmen. Seine Vision war es, das parlamentarische System mit einem relativ starken Einfluss der Arbeiterräte zu verbinden.


Café Wahnsinn. Die radikale Linke – Kommunisten, Anarchisten, Kaffeehausliteraten und Biertischpolitiker mit u. a. den Schriftstellern Erich Mühsam, Ernst Toller und Gustav Landauer an der Spitze – sprach sich gegen die Landtagswahlen und für ein Rätesystem aus. Die SPD forderte daraufhin die Einrichtung von Bürgerwehren zum Schutz der Republik; die USPD und die Soldatenräte lehnten diese Forderung ab, woraufhin Auer zurücktrat. Aus der Wahl zum verfassungsgebenden Landtag am 12. Januar 1919 ging die vor allem von der ländlichen Bevölkerung gewählte Bayrische Volkspartei mit 35 Prozent zwar vor der SPD (33 Prozent) als stärkste Fraktion hervor, war jedoch noch nicht durchsetzungsfähig genug, um in die erste - parlamentarische - Koalitionsregierung (zwischen SPD, USPD und Bayerischem Bauernbund) zu gelangen. Die USPD des Ministerpräsidenten Kurt Eisner erreichte nur 3 Landtagsmandate, während die SPD 61 Abgeordnete stellte und die konservative Bayerische Volkspartei sogar 66. Durch den Wahlboykott der Linken, Kommunisten und Anarchisten blieben die Rätegegner im Landtag unter sich.

Eisner fügte sich der neuen Mehrheit und plante für die erste Sitzung am 21. Februar 1919 seinen Rücktritt als Ministerpräsident. Dazu sollte es nicht mehr kommen. Auf dem Weg zum Landtag ermordet der 22jährige Leutnant - ein gebürtiger Oberösterreicher - Anton Graf von Arco-Valley den Ministerpräsidenten. Der Leutnant wurde übrigens zum Tode verurteilt, der Richter hielt allerdings im Urteil fest, dass seine Tat "nicht niederer Gesinnung, sondern glühender Liebe zum Vaterland entsprungen" sei. So wurde er auch am nächsten Tage schon begnadigt. Es war derselbe Richter, der Hitler wegen des Putsches von 1923 (Feldherrnhalle) milde verurteilte, obwohl Hitler mit Ludendorff und anderen bei diesem Putsch vier Polizisten erschossen und 20 Kisten Banknoten geraubt hatte. Es war praktisch ein Freispruch: fünf Jahre Haft, die Mindeststrafe für Hochverrat, zu verbüßen in ehrenvoller, hotelähnlicher "Festungshaft" in Landsberg am Lech. Die Richter stellten dem Angeklagten die baldige Entlassung in Aussicht. Was auch geschah: Am 1. April 1924, erging das Urteil des Bayerischen Volksgerichts München I, am 19. Dezember 1924 war der Putschist bereits "zur Bewährung" entlassen.


Alternative Abverkaufsschütte. Doch zurück zu den Ereignissen: Dass nach dem Mord an Eisner die Anhänger der Revolution die Räterepublik durchsetzen wollten, sollte sich verheerend auswirken. In München gab es eine Szene von Intellektuellen, Künstlern und Schriftstellern, die linken Utopien verschiedener Provenienz anhingen - Sozialisten, Kommunisten, Lebensreformer, Anarchisten. Als sie die Wut und Verzweiflung der Arbeiter nach Eisners Tod erlebten und ihre Rufe nach der Räterepublik hörten, bekamen sie das unwiderstehliche Gefühl, dass die Stunde gekommen sei. Am 7. April 1919 verkündeten die Münchner Räte auf Plakaten dem bayerischen Volk: "Baiern ist Räterepublik." Und was sich da alles dann versammelte, liest sich wie aus der Abverkaufsschütte eines alternativen Buchladens. Ernst Toller notierte auch selbst: Verkannte Lebensreformer bieten ihre Programme zur Sanierung der Menschheit an. Die einen sehen die Wurzel des Übels im Genuss gekochter Speisen, die anderen in der Goldwährung, die dritten im Tragen unporöser Unterwäsche, die vierten in der Maschinenarbeit, die fünften im Fehlen einer gesetzlich vorgeschriebenen Einheitssprache und Einheitskurzschrift, die sechsten machen Warenhäuser und sexuelle Aufklärung verantwortlich.

Die erste offiziell ausgerufene Räterepublik vom 7. April bis 13. April 1919 war von Literaten wie dem Pazifisten Ernst Toller (USPD) oder den parteilosen Anarchisten Gustav Landauer und Erich Mühsam geprägt. Auch der Finanztheoretiker und Begründer der Freiwirtschaftslehre, Silvio Gesell, wurde als Finanzminister Mitglied in der Regierung der ersten Räterepublik, dem sogenannten "Zentralrat". Toller und Landauer beteiligten sich auch nach der Führungsübernahme durch die KPD, die die erste Räterepublik als Scheinräterepublik bezeichnet hatte, an der kommunistisch dominierten zweiten Räterepublik. Allerdings trat Landauer, enttäuscht von der Haltung und Politik der KPD-Führung, schon drei Tage später von seinen politischen Funktionen und Ämtern zurück.

Bei aller Hoch- und Geringschätzung durch die Nachgeborenen, die allzu leicht erklären, wer wen verraten hat und enthusiastisch die Münchner Räterepublik als Emanzipation und Revolution verklären, das Ganze hätte sich wohl mit ein bisschen Geduld aller Wahrscheinlichkeit nach bald selber aufgelöst. Doch das kann man heute so sehen. Man kann es aber auch so sehen: Immerhin hatte eine durch niemand legitimierte Minderheit unter der Führung einiger Kaffeehausliteraten (die bei den Wahlen gerade mal 2,5 Prozent erreicht hatte) die Macht an sich gerissen. So ist es zum Blutbad gekommen. Reichswehr und Freikorps marschierten in Bayern ein und metzelten auch unbeteiligte Arbeiter nieder.