20. April 1916


Zum Bersten voll mit Empfindungen und Ängsten. 1915 wurde er zur preußischen Armee eingezogen und am 20. April 1916 aufgrund eines Nervenleidens entlassen. Sein Aufenthalt im Lazarett ist vielleicht der am besten dokumentierte Teil des Lebens des Expressionisten Paul Boldt. Schon 1921 starb er 35-jährig an einer unbedeutenden Operation eines Leistenbruches.

Frühexpressionismus. Paul Boldt gehörte zu den rätselhaftesten Figuren des Frühexpressionismus. Über seine Biographie ist nur wenig bekannt. Er ist auch heute noch in der Forschung wenig beachtet worden und wird es wahrscheinlich auch bleiben, da einfach zu wenig Material übrig geblieben ist. Einer der wenigen, die sich in den letzten Jahren mit ihm beschäftigt haben, ist Marcel Reich-Ranicki. Er zitiert: "Was immer er schrieb, er war zum Bersten voll mit Empfindungen und Ängsten, mit Bildern und Geschichten."


Aus dem roten, roten Pfühl

kriecht die Sonne auf die Dielen,
Und wir blinzeln nur und schielen
Nach uns, voller Lichtgefühl.

Wie die Rosa-Pelikane,
Einen hellen Fisch umkrallend,
Rissen unsere Lippen lallend
Kuß um Kuß vom weißen Zahne.

Und nun, eingerauscht ins weiche
Nachgefühl der starken Küsse,
Liegen wir wie junge Flüsse
Eng umsonnt in einem Teiche.

Und wir lächeln gleich Verzückten;
Lachen gibt der Garten wieder,
Wo die jungen Mädchen Flieder,
Volle Fäuste Flieder pflückten.

Verlorene Quellen. Im März 1933 wird das große Archiv von Franz Pfemfert von den Nazis beschlagnahmt und verbrannt. Der Rest des Nachlasses ist auf einer Schiffs-Havarie 1955 verloren gegangen. Der Koffer mit dem Nachlass von Paul Boldt ging bei der Flucht seiner Halbschwester Jenny Horst von Westpreußen nach Thüringen 1945 verloren.

Birken und Linden legen am Kanal
Unausgeruhtes sanft in seinen Spiegel.
Ins Nachtgewölbe rutscht der Mond, ein Igel,
Der Sterne jagt und frißt den Himmel kahl.

Mädchen sind da, und wir sind sehr vergnügt.
Ich schmeiße nach dem dicken Mond mit Steinen;
Die Betty küßt mich, und er soll nicht scheinen,
Weil Bella schweigt und naserümpfend rügt.

Die Sommerstädte liegen um den Park.
Es wird sehr hübsch! Der Süden wandert ein!
Die Sonne wächst! Wie nackte Männer stark

Schreiten die Tage, Frühjahr in den Hüften.
Die schwarzen Linden kommen überein,
Morgen zu grünen in den süßen Lüften!


Die Aktion. In seinem kurzen Leben sind seine Werke zum größten Teil in Franz Pfemferts "Aktion" erschienen. Die Aktion war die einzige entschieden kriegskritische Zeitschrift, die in Deutschland, dank der geschickten publizistischen Strategien ihres Herausgebers Franz Pfemfert, kontinuierlich weiter erschien und die Zensur unterlief. Sie ist noch heute ein Lehrbeispiel für alternativen Journalismus: Mit betont antinationaler Geste brachte er Sondernummern für französische oder russische Literatur heraus und veröffentlichte demonstrativ Nachrufe auf gefallene (auch ausländische) Schriftsteller. Unter dem Titel "Ich schneide die Zeit aus" stellte er kommentarlos Pressezitate zusammen, die sich in ihrer chauvinistischen Haltung sprachlich und gedanklich selbst entlarven sollten. In der "Aktion" auch fanden sich Vorabdrucke aus dem später verbotenen Buch "Die Biologie des Krieges" des bedeutenden Medizinprofessors und Pazifisten G. F. Nicolai, dessen streng wissenschaftliche Argumentation gegen sozialdarwinistische Rechtfertigungen des Krieges die Zensoren offensichtlich überforderte. Dem "Aufruf an die Kulturwelt" setzte Nicolai einen "Aufruf an die Europäer" entgegen, den kein geringerer als sein "Freund und Gesinnungsgenosse" Albert Einstein zu unterschreiben bereit war.

Ich lasse mein Gesicht auf Sterne fallen,
Die wie getroffen auseinander hinken.
Die Wälder wandern mondwärts, schwarze Quallen,
Ins Blaumeer, daraus meine Blicke winken.

Mein Ich ist fort. Es macht die Sternenreise.
Das ist nicht Ich, wovon die Kleider scheinen.
Die Tage sterben weg, die weißen Greise.
Ichlose Nerven sind voll Furcht und weinen.

Erstveröffentlichung: Die Aktion Bd. 3, Jg. 1913, Nr. 27 (5. Juli)
Diese Ausgabe der Zeitschrift wurde als 2. „Lyrische Anthologie" bezeichnet.

Aktion Pfemfert. Schon während des Krieges begann auch die dichterische Beschäftigung mit der Kriegsrealität. Dabei überwogen in der Lyrik auf beiden Seiten die mehr oder minder trivialen "vaterländischen" Kriegsgedichte, die über die Spalten der Tages- und Wochenzeitungen, über Postkarten und so genannte "lyrische Kriegsflugblätter" eine weite Verbreitung fanden. Eine bemerkenswerte Ausnahme in diesem lyrischen Kriegseinerlei waren die Gedichte, die Franz Pfemfert in der Aktion veröffentlichte. Schon am 24. Oktober 1914 erschien erstmals die Rubrik "Verse vom Schlachtfeld". Hier wurden von nun an regelmäßig Gedichte junger Expressionisten und Frontsoldaten abgedruckt, die im Ton und in der Perspektive bald als eigenständige Gattung einer antiheroischen Kriegslyrik gelten konnten. In einer ungewohnten Perspektive dokumentierten sie das andere, offiziell verschwiegene Gesicht des Krieges. "Als ich im vordersten Schützengraben diese Zeilen las", so beschrieb Erwin Piscator später ihre Wirkungskraft, "als ein Gedicht neben dem anderen mein Leid, meine Angst, mein Leben und meinen voraussichtlichen Tod beschrieb und verdichtete ..., da wurde mir bewusst, dass kein gottgewolltes Schicksal waltete, dass kein unveränderbares Faktum uns in diesen Dreck führte, sondern dass nur Verbrechen an der Menschlichkeit und dem Menschen dazu geführt hatten."

Pfemfert war 1915 Mitbegründer der "Antinationalen Sozialistenpartei", die 1918 in den Spartakusbund aufging, organisierte politische Vortragsabende und kämpfte publizistisch gegen Militarismus und Nationalismus. Am 15. Januar (Tag der Morde an Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht) wird er mit seiner Frau Alexandra Pfemfert verhaftet, allerdings wieder rasch freigelassen. Zu Beginn der 1920er Jahre geriet er zunehmend - auch wegen seiner trotzkistischen Gesinnung - in Isolation. Das 1924 von ihm eröffnete Fotoatelier half dem Ehepaar, sich seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Repressalien durch das NS-Regime entkam Pfemfert durch die Flucht am 1.3.1933 in die Tschechoslowakei, wo er in Karlovy Vari als Fotograf arbeitete. 1936 ging er nach Paris und von dort 1940 über Portugal nach Mexiko City. Er starb 1954 verarmt, vereinsamt und vergessen in Mexiko Stadt.

Paul Boldt: Das stumme Land

Das Land liegt zwischen Strömen an den Seen.
Im Winde fiebernd, brandig von Morästen.
Hier wächst der Wald, Es nisten in den Ästen
Die alten Vögel, Völker großer Krähn.

In hellem Abend wandern die Chausseen
Nach Süden aus, und andere nach Westen,
Und sehn auf erzen-hellen Wälderresten
Die Sonne rot in die Schneeberge gehn.

Im stummen Lande wohnt die Menschenrasse
Brutaler Leute, Jähzorn im Geblüt.
Wie Tiere lachen würden, tritt der krasse
Kiefer heraus, um einen Biss bemüht.
Jeder Gewöhnliche erhält die Masse.
Sie lieben Krieg, Tierfang und das Gestüt.

Erstveröffentlichung: Die Aktion Bd. 5, Jg. 1915, Nr. 16/17 (17. April)

Links:

Gedichte von Paul Boldt
Paul Boldt - Lyrik + Prosa
PAUL BOLDT - Linkliste
Free mp3: Auf der Terrasse des Cafe Josty
Paul Boldt (*31.12.1885-†16.3.1921)


[Erwähnte Kalendertage in diesem Beitrag: 17. April 1915, 20. April 1916, 5. Juli 1913, 24. Oktober 1914, 15. Januar 1919, 31. Dezember 1885, 16. März 1921]

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