24. April 1714

Die Entdeckung der Winkelperspektive. Eine der ersten Tätigkeiten des barocken Theatralarchitekten Ferdinando Galli-Bibiena in Wien war am 24. April 1714 die Errichtung des Trauerkatafalks für Anton Ulrich Herzog von Braunschweig. Das Handwerk des Bühnenbildners war also auf vielerlei "Bühnen" ausgerichtet.

Künstlerfamilie. Des Künstlers Ferdinando Galli-Bibiena biedere Berufsbezeichnung in Wien war "Erster kaiserlicher Theatralingenieur in Wien". Er entstammte - und war wohl ihr wichtigstes Mitglied - der Familie Galli-Bibiena aus Bibiena bei Bologna. Die Tätigkeit der verschiedenen Familienmitglieder erstreckte sich über Italien, Spanien, Portugal, Deutschland und Österreich, insbesondere Wien. Die Familie war über mehr als ein Jahrhundert führend an den Fürstenhöfen ganz Europas tätig.

In Wien wirkten die Brüder Francesco und Ferdinando sowie die Söhne Ferdinandos, Giuseppe und Antonio. Francesco wurde 1699 zur Neugestaltung des Hoftheaters als erster nach Wien berufen. Er wurde zum ersten "Theatralarchitekten" ernannt und stattete bis zum Tod Josephs I. einige Opern aus. Seine erste Arbeit am Wiener Hof waren die Bühnenbilder zum "dramma per musica Cajo Gracco" (Text v. Silvio Stampiglia, Musik Giovanni Bononcini, Erstaufführung 16.2.1710).

Der erste Künstler der Familie Giovanni Maria Galli (1625-1665) war Maler und nahm den Beinamen "da Bibiena" an, um sich von einem gleichnamigen Schüler im Atelier von Francesco Albani zu unterscheiden. Dieser Beiname blieb auch den Nachkommen. Giovanni Maria ehelichte Orsola Maria Possenti, mit der er drei Kinder hatte. Sein jüngerer Sohn Francesco (1659-1739) war Maler und Architekt und zunächst in seiner Heimat tätig. Er wirkte an mehreren italienischen Höfen und ist der erste dieser Künstlerfamilie, den wir in Wien antreffen. 1710 erscheint er als erster Theatralingenieur in den Hofrechnungen und in den in Wien gedruckten Textbüchern verschiedener Opern. Die Dauer seines Aufenthaltes in Wien lässt sich aufgrund der Matrikelangaben seiner Kinder in ungefähr errechnen: Angegeben ist die Geburt eines Sohnes im Jahr 1710 und einer Tochter 1711, welche jedoch 1712 als gestorben gemeldet ist. In diesem Jahr dürfte er Wien wieder verlassen haben, da in diesem Jahr sein Bruder Ferdinando mit dem neuen Kaiser Karl VI. nach Wien gekommen war und Francescos Stelle einnahm.

Diagonalperspektive versus Zentralperspektive. Durch die Einführung der Diagonalperspektive hat der Architekt und Theaterdekorationsmaler die illusionistische Bühnenarchitekturmalerei revolutioniert. In seinem 1711 erschienenen Lehrbuch "Architettura Civile" propagierte Ferdinando Galli-Bibiena die Verlegung des zentralen Fluchtpunktes auf die Seite außerhalb des Betrachters und wurde zum Überwinder streng symmetrischer Kulissen. Das galt nicht nur für das Bühnenbild, sondern für Architektur schlechthin bis zur Grabstätte. Auch das streng symmetrische Kulissengrab musste sich danach verabschieden. Das bis dahin starre Bühnenbild konnte mit der Einführung der Diagonalperspektive belebt werden und ließ die Opern in noch größerem Glanz erscheinen. Mit seinen revolutionären Konstruktionsmethoden überwand er die obsolet gewordene Zentralperspektive und zwang zu einer neuen Perzeption des Bühnenraumes.

Gefunden wurde die Zentralperspektive erst dreihundert Jahre zuvor - 1413 - von dem Florentiner Künstler und Baumeister Filippo Brunelleschi (1377-1446). Die erste schriftliche Darlegung der Prinzipien der Perspektive erschien 1435 in dem Werk "De Pictura" (über das Malen) des Architekten, Malers und Schriftstellers Leon Baptista Alberti (1404-1472). Schon sie gilt als revolutionär: "Die gesamte Aufklärung mit ihren tiefgreifenden Folgen über die Französiche Revolution mit den Ideen der Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Gedankenfreiheit, der Etablierung des Individuums für jeden Vernunftbegabten mit all ihren notwendigen Elementen wie dem Anrecht auf jede Information zur Ermöglichung der eigenverantwortlichen Entscheidung, also einer Voraussetzung der modernen Medien, beruht folglich auf dem aus dem Blickwinkel der Zentralperspektive entstandenen Kopernikanischen Paradigmenwechsel." (Davor Löffler - siehe Link unten). Also nicht da Vinci, nicht Kopernikus, nicht Kepler und schon gar nicht Descartes, sondern der Architekt und Bildhauer Filippo Brunelleschi gilt als der eigentliche Initiator eines neuen radikalen Denkens. Erstmals werden geometrische Gesetze wissenschaftlich verwendet, das neue Sehen ist zugleich ein objektives Messen.

Galli-Bibienas Diagonal- bzw. Winkelperspektive stellte die Hauptachse des Bühnenbildes in einen Winkel von 45° quer zur Achse des Zuschauerraums. Dadurch wurden die Bühnenräume nur angeschnitten und zwangen die Vorstellungskraft der Zuschauer zu ihrer Vollendung. Dadurch entstanden kolossale Raumfluchten. Es ist der Höhepunkt des barocken Bühnenbildes, den man der Familie Galli-Bibiena verdankt. Das von Ferdinando Galli-Bibiena geschaffene Bühnenbild, das auf der Bühne den schräg über Eck gestellten Raum realisiert, wird von seinem Sohn Giuseppe Galli-Bibiena (1696–1756) noch erweitert und vertieft, die Effekte mit Hilfe polygonaler Raumsysteme verstärkt.

Werke. Leider sind die Bühnenbilder und die anderen szenischen Werke Galli-Bibienas nur für den Tag geschaffen und somit natürlich nicht erhalten. Die Albertina in Wien besitzt allerdings eine Reihe von Handzeichnungen. Beispiele erhaltener und Ferdinando Galli-Bibiena zuzuschreibender Bauwerke finden sich nur in Italien: So die Villa und die Gärten in Colorno, die er für den Herzog von Parma errichtet hatte, ebenso in Parma die Kirche S. Antonio Abate, das Teatro reale in Mantua und der Arco del Meloncello in Bologna. Er zählte eine Vielzahl von Künstlern zu seinen Schülern: Nahezu sämtliche Vertreter der Bologneser Schule sowie den Wiener Architekten Anton Ospel.




[Erwähnte Kalendertage in diesem Beitrag: 24. April 1714, 16. Februar 1710, 8.August 1656, 3.Januar 1743]

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